Text von Beat Portmann
Lesung von Beat Portmann im Zug im Rahmen der Perfomance-Reise nach Emmenbrücke, 29.6.2012

Fünf Minuten von Luzern nach Emmenbrücke. Das sollten wir doch schaffen. Die verkniffene Stimme der unsichtbaren Bahnhofsfrau verstummt, die Passagiere verteilen sich über die Wagen, die Türen schliessen. Der Zug fährt an, mobilisiert seine ganze unglaubliche kreatürliche Kraft, 2620 Pferdestärken, beschleunigt mit einer Mühelosigkeit, als befände er sich in freiem Fall, von 0 auf 100 km/h in 23 Sekunden. 120 Tonnen Stahl auf Stahl, die Stränge, die die Welt bedeuten, in sie hinausweisen, aus den Tiefen der Erde gewonnen, im Fegefeuer geschmolzen und zu widerstandsfähigen Materialien legiert. Und die Welt setzt sich in Bewegung, während wir stillstehen.
Fünf Minuten – ist das wirklich ein exaktes Zeitmass? Sind wir überhaupt in der Lage, Zeit als lineares Verstreichen von Sekunden und Minuten zu empfinden? Für denjenigen, der sagt „nur noch fünf Minuten“, bedeutet dies etwas ganz anderes als für den Vertrösteten. Ein Popsong am Radio dauert in der Regel weniger als fünf Minuten, ebenso die Nachrichten. Fünf Minuten lang anstehen, eine lange Zeit. Fünf Minuten, wenn man in ein Gespräch vertieft ist – nichts. Noch fünf Minuten in einem Fussballspiel, das auf der Kippe steht, und die gegnerische Mannschaft greift an –. Fünf Minuten sind fünf Mal sechzig Sekunden. Jede Sekunde ein Wimpernschlag, ein Atemzug, ein Blick, eine Berührung. Die Geschichte ist eine endlose Aneinanderreihung von Sekunden – eine einzelne Sekunde kann den Lauf der Geschichte verändern. Sie glauben mir nicht? Denken Sie an Fukushima. Denken Sie an die Begegnung von Franz Ferdinand mit Gavrilo Princip auf der Lateinerbrücke. Oder die Sekunde, in der Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen pflückte. Fünf Minuten Schlaf, wenn morgens der Wecker klingelt – manche würden dafür ein Königreich geben, wenn sie denn eins hätten. Die letzten fünf Minuten der Verliebten, bevor sie sich trennen müssen/noch fünf Minuten, bis die Schule aus ist/fünf Minuten, bis der Zug fährt, und man steckt im Stau fest. Fünf Minuten bedeuten Dramatik, wie sie die Literatur kaum zu schaffen vermag, bedeuten aber auch Ödnis, einen gähnenden Blick in den Abgrund der Ewigkeit.
Fünf Minuten dauert die Fahrt sowohl mit der S18 wie der S9 von Luzern nach Emmenbrücke. Wir durchstossen Felsen, fahren im Dämmerlicht gemauerter Schluchten – ein kreuzender Zug taucht auf wie eine rätselhafte visuelle Erscheinung, zerreist unser Spiegelbild – wir rattern über Strassen und dann wieder unter ihnen hindurch, wir werfen einen Blick auf die geheimnisvolle fremde Stadt an den Rändern, auf Hinterhöfe, Balkone, Gärten, folgen dem Lauf der Reuss, bis sie sich mit der Emme verbindet.
Fünf Minuten, und dass es sich bei diesen fünf Minuten nicht einfach um nutzlose fünf Minuten handelt, ruft uns die Stimme der Bahnhofsfrau in Erinnerung, die in irgendeinem feuchten Kellergewölbe festgehalten wird und uns eine geheime Botschaft übermitteln möchte, aber niemand hört ihr jemals richtig zu.
Fünf Minuten, und wir überschreiten eine Grenze, ohne es zu bemerken, ohne uns dafür zu interessieren, obwohl uns Grenzen doch so viel bedeuten, Grenzen, ja Grenzen, die uns Sicherheit und Heimat und was auch immer bedeuten. Wir lieben Grenzen. Manche besonders dafür, dass man sie überschreiten kann, in verbotener Weise, denn Grenzen sind dazu gedacht, dass wir sie nicht überschreiten.
Wir das sind: der verstöpselte junge Mann mit Sporttasche, die Gruppe Jugendlicher, der Mann aus Nordafrika und die Frau des Gemeinderates, ein Hund und sein Herrchen, ein Business-Mann, der arbeitslos ist, aber seine Frau darf davon nichts erfahren, obschon sie es natürlich längstens ahnt, sind ein Clown, ein Arbeiter und eine mysteriöse Schöne, eine kleine, distinguierte Gruppe Kulturinteressierter und ein – . Der Zug bremst ab, verlangsamt die Fahrt, von 100 km/h auf 0, Rückgewinnung kinetischer Energie, das Zischen der Hydraulik. Fünf Minuten. Und wir sind da, sind da in Emmenbrücke.